Flüchten und ankommen – Wie Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Geflüchtete gemeinsam Lösungen finden
Die Sozialwissenschaftlerin Gökce Yurdakul knüpft für ein Projekt über geflüchtete ukrainische Mütter gezielt Kontakte zu außeruniversitären Akteuren und betroffenen Frauen. Ihr Ziel ist es, viele verschiedene Perspektiven aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu holen, um gemeinsam die richtigen Lösungen zu finden. Um zusätzliche Zeit für dieses besondere Engagement zu haben, wird Gökce Yurdakul über die Förderlinie Open Humboldt Freiräume ein Semester lang von der Lehre befreit.
Als Russland am Morgen des 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, befand sich Lilija Oleksienko in der westukrainischen Stadt Lwiw, nahe an der Grenze zu Polen. Schon zwei Wochen vorher hatte sie sich von Kiew aus auf den Weg dorthin gemacht – mit ihrem Auto, in das sie die wichtigsten Sachen und ihre drei Söhne gepackt hatte. Der Krieg kam für die Ukrainerin nicht ganz überraschend. „Ich habe die politische Lage intensiv verfolgt und mit einem Angriff gerechnet. Und ich hatte Angst“, erzählt die 45-Jährige, die in Kiew als Rechtsanwältin gearbeitet hat. Mit Kriegsausbruch verließ sie schließlich mit ihren Kindern das Land in Richtung Berlin und fand dort über Bekannte rasch eine Wohnung.
"In der Politik sind geflüchtete Mütter ein blinder Punkt und ihre Bedürfnisse werden nicht angemessen berücksichtigt"
Lilija Oleksienko ist mit ihrer Geschichte eine von vielen Hunderttausend Ukrainerinnen, die vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sind. „70 Prozent der aus der Ukraine geflüchtete Menschen sind Frauen“, erklärt Gökce Yurdakul, Professorin für soziale Konflikte und Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität. Ein großer Teil davon habe Kinder und damit ganz besondere Bedürfnisse und Herausforderungen, wenn es um Schule, Kitaplatz, Arbeits- und Wohnungssuche oder Spracherwerb gehe. „In der Politik ist das ein blinder Punkt und wird überhaupt nicht angemessen berücksichtigt“, betont sie. Wie es diesen Frauen geht, untersucht die Wissenschaftlerin in einem außergewöhnlichen Projekt, für das sie über die Förderlinie Open Humboldt Freiräume ein Semester lang von der Lehre befreit wird. Für ihre Forschung geht Gökce Yurdakul ganz gezielt aus der Universität heraus und knüpft Kontakte zu außeruniversitären Partner:innen, um zivilgesellschaftliche Akteure und betroffene Frauen einzubinden.
Die Suche nach einem neuen Beruf
Als Lilija Oleksienko ihre Geschichte erzählt, sitzt die Studentin Beatriks Rabinovych neben ihr. Die beiden Frauen kennen sich seit einigen Monaten. Neben ihrem Masterstudium der Rehabilitationspädagogik arbeitet Beatriks Rabinovych als Beraterin bei einer Bildungseinrichtung. Hier unterstützt sie geflüchtete Frauen aus der Ukraine mit Job-Coachings. Auf diesem Weg hat sie auch Lilija Oleksienko kennengelernt, die sich beruflich neu orientieren muss. „Leider lässt sich mein Beruf hier in Deutschland nicht anerkennen. Also suche ich einen neuen Bereich, in dem ich arbeiten kann“, erzählt sie.
Beatriks Rabinovych begleitet sie dabei – und erhebt gleichzeitig Daten für ihr Forschungspraktikum an der Humboldt-Universität. Ihre Analysen sind wichtige Quellen für Gökce Yurdakul und ihr Projekt „INTERSECT“, das untersucht, wie sich Menschen, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, für geflüchtete Frauen aus der Ukraine engagieren, welche Strategien zivilgesellschaftliche Organisationen für diese Art von Hilfe haben und welche Herausforderungen mit der Flucht und der Ankunft in Deutschland vor allem für Mütter mit Kindern verbunden sind.
Wissenschaft und Zivilgesellschaft arbeiten zusammen
Beatriks Rabinovych stammt selbst aus Ukraine, lebt aber bereits seit zehn Jahren in Deutschland. In Interviews befragt sie die Frauen und bereitet die Daten wissenschaftlich auf. Aus den Gesprächen und aus Literaturrecherchen erstellt sie Faktenblätter, die übersichtlich zusammenstellen, mit welchen besonderen Herausforderungen und Integrationshürden die Frauen konfrontiert werden. „Bürokratie“, „Sprachbarrieren“ oder „Kinderbetreuung“ stehen auf diesen Blättern, die kurz und bündig zusammenfassen, wo es Schwierigkeiten gibt und welche Folgen das hat. Eine Anerkennung von Zeugnissen, die für eine Arbeitsaufnahme notwendig sind, dauere etwa drei bis sechs Monate, listet die Übersicht auf. Die meistens ohne ihre Männer geflüchteten und damit alleinerziehenden Frauen bräuchten zudem auf eine gut funktionierende Kinderbetreuung, um in den Arbeitsmarkt zu gelangen. Das zu organisieren, ist oft schwierig. Die aufgelisteten Fakten sollen an die Politik kommuniziert werden und dabei helfen, die Situation der Geflüchteten besser zu verstehen, um die richtigen Lösungen zu finden. Beatriks Rabinovych plant bereits ein weiteres Faktenblatt, das Integrationshürden von Kindern behandelt.
„Forschung sollte auf die tatsächlichen Bedürfnisse und Realitäten in der Gesellschaft reagieren“, sagt Gökce Yurdakul. „Und gerade in diesem Punkt kann ich von außeruniversitären Partner:innen, die tagtäglich damit umgehen, viel lernen. Wenn wir nur in unseren Büros in der Uni sitzen, haben wir davon keine Ahnung.“ Mit der Welcome Alliance hat die Forscherin eine passende Partnerin für ihr Vorhaben gefunden. Das Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, Stiftungen, staatlichen Institutionen und Unternehmen setzt sich für eine menschenwürdige, bedürfnisorientierte und nachhaltige Integration und Teilhabe von zugewanderten Menschen in Deutschland ein. „Für unsere Arbeit ist auch die wissenschaftliche Perspektive wichtig und hilft uns weiter“, sagt Luise Garleff, die für die Netzwerkarbeit der Welcome Alliance der gemeinnützigen Organisation ProjectTogether zuständig ist.
Sachlich und rational – emotional und persönlich
„Die Wissenschaft hat auf viele Narrative, die zum Thema Geflüchtete gerade in den Medien bedient werden, ganz rationale, mit Daten unterlegte Antworten. Allerdings“, betont Luise Garleff, „greifen diese in der Öffentlichkeit oft nicht.“ Den rationalen, sachlichen Argumenten stehen die eher emotionalen, persönlichen Geschichten und Erfahrungen aus migrantischen und geflüchten Gemeinschaften sowie aus der Zivilgesellschaft gegenüber. „Beide zusammen können erfolgreiche Lösungsvorschläge liefern“, ist Luise Garleff überzeugt. Gökce Yurdakul stimmt zu: „In der Wissenschaft haben wir Daten und Fakten, aber wir können tatsächlich nicht so viel bewegen. Dafür brauchen wir unsere Partner:innen aus der Zivilgesellschaft, um Veränderungen anzustoßen.“
Möglichst viele verschiedene Akteure und Perspektiven zusammen in einen Raum bringen, neue Ideen entwickeln und sich miteinander austauschen – das sind die Ziele des Projekts. Dazu plant Gökce Yurdakul mit ihren Projektpartner:innen eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Mutterschaft und Migration, auf der Menschen aus der Politik, von zivilgesellschaftlichen Organisationen, aus der Wissenschaft und natürlich die Betroffenen selbst zu Wort kommen sollen.
Auch Lilija Oleksienko wird an der Podiumsdiskussion teilnehmen und von ihren Erfahrungen berichten. Nach der Ankunft in Berlin kümmerte sie sich rasch um einen Deutschkurs, meldete sich beim Sozialamt und beim Jobcenter an und suchte einen Schulplatz für ihre Kinder. „Ich habe schnell über das Internet und in Chatgruppen herausgefunden, welche Schritte ich hier in Deutschland zuerst unternehmen muss. Dabei haben mir auch meine Englischkenntnisse weitergeholfen“, berichtet sie. „Aber nicht alle Geflüchteten sind dazu in der Lage“, betont sie. Das bestätigt auch Beatriks Rabinovych: „Viele müssen zuerst einmal emotional aufgefangen und psychisch stabilisiert werden, denn sie befinden sich in einer absoluten Ausnahmesituation.“ Gerade diese psychisch-soziale Unterstützung kam kurz nach Kriegsausbruch viel zu kurz und wurde häufig gar nicht angeboten. Nach zwei Jahren seien die Menschen inzwischen stabiler, haben meist auch schon sehr gute Sprachkenntnisse, erklärt die Beraterin. „Die Situation hat sich gewandelt, so dass tatsächlich das Thema Arbeit im Mittelpunkt steht.“
Raus aus der Wartschleife
Mit zwei Studienabschlüssen hofft auch Lilija Oleksienko, bald eine passende Arbeit zu finden. Als ukrainische Rechtsanwältin kann sie in ihrem alten Beruf in Deutschland nicht arbeiten. Zusätzlich zum Jurastudium hat sie auch einen Abschluss in internationalen Beziehungen und fragt sich, wie sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten beruflich weiter erfolgreich nutzen kann. An den notwendigen Sprachkenntnissen arbeitet sie täglich mehrere Stunden lang: vormittags im Deutschkurs und nachmittags zuhause mit Übungen und Hausaufgaben.
Ihre Söhne sind heute 10, 14 und 15 Jahre alt. „In diesem Alter muss man verstehen, wohin man gehört und in dem sich entscheidet, was man später einmal machen möchte“, sagt Lilija Oleksienko. Ihren Kindern möchte sie ein gutes Beispiel sein, ihnen Stabilität geben und ihr Leben in Deutschland neu aufbauen. „Wir müssen uns neu orientieren und unser Leben gestalten. Es geht nicht darum zu warten, bis der Krieg zu Ende ist.“
Betroffene, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft an einem Tisch
Auf der Podiumsdiskussion möchte sie über die jetzige Situation sprechen. Darüber, wie viel der Staat bereits für sie getan habe und auch darüber, was aus ihrer Sicht nicht gut läuft. „Ich glaube, dass das Bewusstsein dafür fehlt, dass das Problem noch jahrelang dauern wird. Wir benötigen jetzt Maßnahmen, die uns dabei helfen, schnell Arbeit zu finden.“ Dafür könnten aus ihrer Sicht etwa Anreize für Arbeitgeber helfen, geflüchtete Menschen einzustellen. „Ich möchte nicht alles umsonst bekommen, ich möchte etwas dafür tun und ein Teil der Gesellschaft sein.“
Mit einer Podiumsdiskussion im Herbst findet das Projekt einen vorläufigen Abschluss. Doch die entstandenen Kontakte werden darüber hinaus Bestand haben, sind alle Beteiligten überzeugt. „Daraus kann noch mehr entstehen“, sagt etwa Luise Garleff, die etwa eine langfristige wissenschaftliche Begleitung von Projekten ihrer Organisation sinnvoll findet. Schon jetzt gibt es gemeinsame Zukunftspläne und Ideen: Etwa für einen Podcasts mit unterschiedlichen Gesprächspartner:innen oder für „Mittagsgespräche“, in denen sich verschiedene Akteure regelmäßig treffen und sich zum Thema Migration austauschen.
„Wenn man die Ursachen für Probleme benennt, kann man sie schneller lösen. Vielleicht können meine Erfahrungen und Kenntnisse dabei helfen, Programme und Initiativen aufzubauen, die betroffene Frauen genau dort unterstützen, wo sie es am meisten brauchen“, sagt Lilija Oleksiienko Trotz allem blickt sie optimistisch in die Zukunft: „Man muss immer positiv denken.“
Die Förderlinie Open Humboldt Freiräume zielt darauf ab, den Wissensaustausch zwischen Universität und Gesellschaft zu unterstützen und voranzutreiben. Sie wird aus Exzellenzmitteln der Berlin University Alliance gefördert.
Über ihr Projekt erzählen Gökce Yurdakul und Luise Garleff auch im Video: "Open Humboldt Freiräume - vorgestellt"
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